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Warum schreckliche Details so wichtig sind und was „Zeit“-Verbrechen-Chefredakteur Daniel Müller an seine Grenzen bringen

Warum schreckliche Details so wichtig sind und was „Zeit“-Verbrechen-Chefredakteur Daniel Müller an seine Grenzen bringen Daniel Müller (Foto: Chantal Seitz)

Er verantwortet mit „Zeit“-Verbrechen eine der großen True-Crime-Marken. Im Gespräch mit Markus Trantow unterstreicht Müller die gesellschaftliche Verantwortung des Kriminal-Journalismus und erläutert, warum das Schildern schrecklicher Details entscheidend für die Verbrechensprävention ist.

Hamburg –  Auszug aus dem Gespräch zwischen turi2-Chefredakteur Markus Trantow und Daniel Müller in der Themenwoche Zeitschriften:

 

Daniel Müller, Sie sind Chefredakteur von „Zeit Verbrechen“. Wie schlecht, wie verdorben ist die Welt da draußen?

Daniel Müller: Sie ist weit weniger verdorben, als sie oft dargestellt wird – zumindest, wenn wir mal nur Deutschland betrachten. Wer regelmäßig Boulevardmedien konsumiert, könnte ja den Eindruck bekommen, dass wir nur von Messerstechern, Mördern und Vergewaltigern umgeben sind. Doch das stimmt natürlich nicht. Ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt, dass die Zahl der Kapitalverbrechen in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken ist. Deutschland ist viel sicherer geworden. Dafür gibt es mehrere Gründe: Wirtschaftliche Stabilität, verbesserte Polizeiarbeit, die viele Verbrechen bereits im Vorfeld verhindern kann, nicht zuletzt eine deutlich besser aufgeklärte Gesamtbevölkerung. Auch die kontinuierliche Stärkung der Präventionsarbeit ist ein Grund dafür. Besonders freut mich zudem, dass der Opferschutz präsenter geworden ist.

 

Das heißt, früher war die Welt nicht etwa besser, sondern schlechter als heute?

Das ist in dieser von multiplen Krisen geprägten Zeit sicherlich kein Satz, den ich für die Gesamtwetterlage der Welt unterschreiben würde, aber für das Feld, in dem wir arbeiten, lautet die Antwort: Ja. Wenn wir uns auf Kriminalität in Deutschland oder Kontinentaleuropa konzentrieren, ist die Welt besser geworden.

 

Früher waren Sie investigativ tätig. Jetzt leiten Sie ein True-Crime-Magazin. Wenn ich Ihren Lebenslauf richtig verstehe, wollten Sie als Journalist nicht unbedingt über die schönen Seiten der Welt berichten, sondern über die dunklen. Wie kam es dazu?

Ursprünglich wollte ich Fußballkommentator werden, später dann Theaterkritiker – da hat mich schon eher das Schöne angezogen als das Hässliche. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das meine Hobbys ruinieren würde. 2010 war ich als Reporter bei der „Berliner Morgenpost“ an der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Canisius-Kolleg beteiligt. Das war mein erster Kontakt mit investigativem Journalismus und ich war sofort fasziniert. Journalisten sind ja alle neugierig, und um Neugierde zu befriedigen, gibt es kein besseres Feld als den Investigativ-Journalismus. Sich beruflich damit befassen zu dürfen, Informationen zu beschaffen, die nicht ans Licht gelangen sollen, und damit im Idealfall gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, empfinde ich als Privileg.

 

Was fasziniert Sie gerade am Kriminaljournalismus?

Mich fasziniert die Vielfältigkeit. Wir erhalten Einblicke in menschliche Schicksale und Seelen. Und da interessieren mich die Geschichten von Opfern und Tätern gleichermaßen, vor allem die „Kipppunkte“ in ihren Biografien. Es gilt, diese Momente zu identifizieren, in denen etwas so aus dem Ruder läuft, dass jemand zum Verbrecher wird. Man wird ein Verbrechen aber nie nur aus einer einzelnen Tatsituation heraus begreifen können, man muss sich schon die Mühe machen, tiefer zu gehen. Und zwar in alle Richtungen: Es gilt, die Menschen hinter den Taten auszuleuchten, die oft ja selbst Schreckliches erlebt haben. Die Menschen zu befragen, die zurückbleiben. Und den Apparat, der dieses Verbrechen ermittelt, auf den Prüfstand zu stellen. Guter Kriminaljournalismus ist ja immer auch investigativer Journalismus. Als Kriminaljournalistinnen und -journalisten haben wir eine Watchdog-Funktion, die wichtig ist, weil es für Polizei und Justiz ja kaum ein anderes Korrektiv gibt.

 

Wo verläuft für Sie die Grenze zum Voyeurismus?

Die Grenze liegt dort, wo wir in die Intimsphäre von Menschen eindringen, die uns nichts angeht – wenn diese Menschen das nicht explizit zulassen. Gerade bei Kapitalverbrechen lässt sich der Blick in diese Sphäre aber auch nicht immer verhindern, da oft sehr persönliche Motive eine Rolle spielen. Man muss daher immer abwägen, was man der Öffentlichkeit zugänglich macht und was man zum Schutze der Persönlichkeitsrechte verschweigt. Bei der „Zeit“ haben wir, denke ich, ein gutes Gespür dafür entwickelt, Geschichten so zu erzählen, dass sie verständlich und interessant sind, ohne Menschen bloßzustellen.

 

Wie läuft so eine Abwägung ab?

Ich gebe Ihnen mal ein abstraktes Beispiel, das aber auf einem konkreten Fall basiert. Wir haben einmal über einen Menschen recherchiert, der in Deutschland sehr bekannt war und dem vorgeworfen wurde, kinderpornografisches Material besessen und verbreitet zu haben. Ich hatte Zugang zu den Akten und habe darin Details gelesen, die man auch dazu hätte verwenden können, ihn regelrecht zu vernichten. Das ist aber natürlich nicht unser Interesse. In solchen Fällen haben wir im Haus eine Art Kontrollinstanz. Wir sprechen vertraulich im kleinen Kreis und diskutieren genau, was zwingend in die Geschichte gehört und was nicht. In dem vorliegenden Fall wären manche Details einfach zu viel gewesen – sie hätten tief in die Intimsphäre des Betroffenen eingegriffen, ohne Mehrwert für die Berichterstattung zu liefern.

 

Sie schauen beruflich tief in menschliche Abgründe – wo ist Ihre Grenze?

Das Thema Kinderpornografie und generell sexuelle Gewalt an Kindern hat mich viele Jahre lang beschäftigt. Ich habe etliche Recherchen dazu gemacht, aber inzwischen gebe ich sie an Kolleginnen und Kollegen weiter, die besser damit umgehen können. Ich kann es nicht mehr. Der Wendepunkt kam für mich, als ich eine Anklageschrift in einem Fall las, der den Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach betraf. Da musste ich mich beim Lesen übergeben. Das war der Moment, in dem ich realisiert habe, dass ich an meine Grenzen gekommen war. Trotzdem sind solche Recherchen im Kriminaljournalismus von enormer Bedeutung. Es ist wichtig, dass die Menschen erfahren, was Kindern in diesem Land jeden Tag angetan wird. Wenn wir immer nur schreiben, dass sich jemand an seinem Kind „vergangen“ hat, dann bagatellisieren wir ein massives Problem. Darunter kann sich niemand etwas vorstellen. Es ist grauenvoll, wenn man die Details kennt, aber diese Konkretion ist wichtig für die Prävention.

 

Für Ihr Mutterblatt, die Wochenzeitung „Die Zeit“, ist es wichtig, nicht nur über das Schlechte in der Welt zu schreiben, sondern auch über das Gute und Schöne. Braucht auch ein Kriminal-Magazin so ein Gegengewicht?

Ja, unbedingt. Ich finde, ein Magazin mit über 120 Seiten kann nicht ausschließlich aus Horror bestehen – das hält niemand aus. Jede Ausgabe braucht eine ausgewogene Mischung. Auch in unserem Heft soll man mal lachen dürfen. Zum Beispiel, wenn der Feuilletonist Jens Jessen über „Deutschlands dümmste Bankräuber“ philosophiert. Gleichzeitig suchen wir auch nach Geschichten, die positiv enden und z.B. gern auch mal hervorragende Arbeit von Ermittlern aufzeigen. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte des Mordfalls „Georgine“ in Berlin, der durch jahrelange, akribische Arbeit verdeckter Ermittler gelöst wurde. Die haben sich eine Legende aufgebaut, sind ins Umfeld des Täters gezogen, haben ihm beim Renovieren geholfen und schließlich sein Vertrauen gewonnen. Das war fantastische Polizeiarbeit.

 

Im ausführlichen Interview mit Markus Trantow warnt Daniel Müller davor, True Crime zur bloßen Sensation zu degradieren und erzählt, wie er es geschafft hat, aus den großen Fußstapfen der „Zeit Verbrechen“-Gründerin Sabine Rückert herauszutreten.

 

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Zur Person: Daniel Müller ist seit 2021 Chefredakteur des Magazins „Zeit Verbrechen“, seit 2012 ist er bei der „Zeit“, wo er zunächst zu Rechtsextremismus und Islamismus recherchierte. Zuvor arbeitete er für die „Berliner Morgenpost“ und die „Welt“ – auch hier hat der studierte Theaterwissenschaftler und Journalist investigativ gearbeitet. Er wurde für seine Reportagen unter anderem mit dem Nannen-Preis, dem Deutschen Reporterpreis und dem Wächterpreis ausgezeichnet.