Vermischtes
KNA – Steffen Grimberg

Marlehn Thieme: „Wenn nichts mehr passiert, müssen wir die Verleger und privaten Anbieter Huckepack nehmen“

Nach 20 Jahren im ZDF-Fernsehrat tritt dessen Vorsitzende, Marlehn Thieme, ab. Sie sieht das ZDF gut für die Zukunft aufgestellt und sagt, den RBB-Skandal und die Debatte um den Rundfunkbeitrag hätte es nicht auch noch gebraucht.

Berlin (KNA) – Am Freitag tritt der neue Fernsehrat des ZDF zu seiner ersten Sitzung zusammen. Unmittelbar davor findet die letzte Sitzung des alten Fernsehrats statt. Marlehn Thieme hat das Gremium seit 2016 geleitet, insgesamt war sie 20 Jahre lang als Vertreterin der evangelischen Kirche Fernsehratsmitglied. Nun scheidet die ehemalige Bankerin und heutige Präsidentin der Welthungerhilfe aus dem Gremium aus.


Frau Thieme, Sie blicken auf zwei Amtszeiten als Vorsitzende des ZDF-Fernsehrats zurück. Gibt es da auch Dinge, die Sie so gar nicht gebraucht hätten?
Marlehn Thieme: Die Vorgänge beim RBB! Wobei ich sagen muss: Was sich in der Folge dieses Skandals an Mängeln im System herauskristallisierte, hat auch uns schlauer gemacht. Der Fernsehrat hat noch einmal jede Ecke ausgeleuchtet, ob wir da hinreichend aufgestellt sind. Aber wir waren uns ziemlich sicher, dass wir eine andere Struktur haben, auch eine andere Offenheit miteinander und eine völlig andere Partizipation und einen ganz anderen Wissenstransfer als die Instanzen beim RBB. Und dann natürlich die Diskussion um die Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Die hätte es in einer Zeit, wo wir die Herausforderung haben, das ZDF einer Welt anzupassen, die immer Social-Media-affiner wird, in der ganze Bevölkerungsgruppen ihr Medienverhalten völlig verändern, nicht auch noch gebraucht.

 

Inwiefern ist das ZDF anders aufgestellt?
Das Selbstbewusstsein der ZDF-Fernsehräte war immer ausgeprägt. Das hat etwas mit den Menschen zu tun, die da hineingeschickt werden. Das sind viele Staatskanzleivertreter der Länder oder Spitzenfunktionäre bundesweiter Nichtregierungsorganisationen. Es hat einen anderen Impact, wenn Sie in so einem Gremium Menschen haben, die auch in ihrem Hauptberuf bundesweite Organisationen professionell führen; die aus einer gewissen Fachlichkeit kommen und auch Forderungen stellen, was Transparenz anbetrifft. Die haben mehr Aufsichtserfahrung über komplexe Strukturen.


Zusammen mit Gremienvertretern der ARD haben Sie vor knapp drei Wochen an die Bundesländer appelliert, in der Beitragsdebatte das gesetzlich vorgegebene Verfahren einzuhalten. Das war ein ungewöhnlicher Schritt, dass sich die Gremien zu Wort melden. Wie kam das bei den Ländern an?

Ich habe noch keine Rückmeldung, und ich erwarte auch keinen abgestimmten Brief der Länder oder Ähnliches. Uns allen kam es darauf an, zu sagen: Das ist nicht nur eine Sache der Intendanten, sondern es ist auch eine Sache derjenigen, die wie wir wesentliche Entscheidungen mittreffen, damit der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen Auftrag auch noch übermorgen und im übernächsten Jahr erfüllen kann. Dafür müssen wir aber jetzt Vorsorge treffen. Unser Finanzausschuss will spätestens in der Sommer- oder Frühherbstsitzung den Haushaltsplan fürs nächste Jahr haben. Das sind Millionenbeträge - und wenn da weniger kommt als geplant, muss man jetzt darüber nachdenken. Da reicht es nicht von der Medienpolitik, zu sagen, ja, ja, ihr kriegt irgendwann im nächsten Jahr einen neuen Finanzierungsstaatsvertrag.

 

NRW-Medienminister Nathanael Liminski hat ja den Vorschlag gemacht hat, dass die Anstalten schon mal auf die Rücklagen aus den Mehreinnahmen der noch laufenden Beitragsperiode zurückgreifen könnten...
Aber die sind doch längst in den Haushaltsplänen eingepreist. Meine Befürchtung ist, dass man einige Rundfunkanstalten damit überfordert. Ich komme ja aus dem Bankwesen und weiß: Das geht ganz schnell. Dann muss man völlig wild Kosten kappen und macht so zukunftsträchtige Dinge kaputt - Stichwort digitale Investitionen -, die aber unbedingt gebraucht werden. Da sitzen dann die großen amerikanischen Plattformunternehmen, die nur darauf warten, dass hier solche Fehler gemacht werden.

Als Fernsehrat können Sie nicht selbst beim Bundesverfassungsgericht in Sachen Beitrag klagen.

 

Schicken Sie jetzt Ihren Intendanten los?
Wir haben unseren Appell ja gerade noch einmal platziert, um klarzumachen, wir brauchen diese Entscheidung - und es gibt vielleicht mildere Mittel als einen Gang nach Karlsruhe.

 

Vor dem diverse Medienpolitiker wie Rainer Robra aus Sachsen-Anhalt auch warnen, weil dies der nach seiner Sicht ohnehin angeknacksten Glaubwürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems zusätzlich schaden würde.
Eine Rechteklärung ist ein Anspruch jedes Bürgers und auch jeder öffentlich-rechtlichen Anstalt. Damit ist überhaupt nichts Rufschädigendes verbunden. Natürlich muss so etwas gut überlegt sein. Es hängt jetzt davon ab, wie weit die Staatsvertragsgeber erkennbar machen, wohin die Reise geht. Die Politik wird entscheiden müssen, was sie künftig an Auftrag haben will und was nicht. Ich stelle auch mal das Mantra der Beitragsstabilität in Frage. Die Beitragsstabilität vor dem Programmauftrag zu definieren, ist der falsche Weg.

 

Der von den Ländern eingesetzte Zukunftsrat hat ja ein neues Finanzierungsmodell vorgeschlagen, nachdem die KEF prüfen soll, ob der Auftrag durch die Anstalten erfüllt wird - und davon wird dann die künftige Finanzierung abhängig gemacht. Bei Nichterfüllung drohen Abschläge. Sie sind ja Bankerin - können Sie sich mit so einem Modell anfreunden?
Das machen die Programmaufsichtsgremien ja heute schon - mit den Anstalten zusammen, und zwar staatsfern. Da geht es nicht um jeden einzelnen Euro, aber schon um die grundsätzliche Steuerung der Angebote. Wir müssen als Fernsehrat - plakativ formuliert - immer drei Jahre im Vorhinein sagen, erwarten wir mehr oder weniger Sport, mehr oder weniger Fiktionales und so weiter.

 

Welche Rolle spielen im ZDF-Fernsehrat denn aktuell die berühmten Freundeskreise?
Das wird von der Öffentlichkeit manchmal ein bisschen überbewertet. Es gibt aktuell zwei Freundeskreise, was aber nicht in Stein gemeißelt ist - es könnten auch mehr oder weniger werden. Deren „Bindungswirkung“ war in einer Zeit, wo die Politik noch sehr viel mehr im ZDF involviert war, deutlich stärker. Das ist aber heute nicht mehr der Fall. Die Freundeskreise haben auch keinen gehobenen Informationsstand.

 

Würden Sie also sagen, eine Aktion wie der „Fall Brender“ vor 15 Jahren wäre heute nicht mehr möglich?
Die Nichtverlängerung des Vertrags des damaligen ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender war eine Sache des ZDF-Verwaltungsrats. Wie weit da die Freundeskreise involviert waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich war damals schon im Fernsehrat und habe meine kritische Sicht auf die Vorgänge öffentlich gemacht.

 

Wie können die Gremien denn ihr besseres Funktionieren sicherstellen?
Wir haben - auch als Reaktion auf die Zustände beim RBB, wo Rundfunk- und Verwaltungsräte gesagt haben: Wir haben von dem allen überhaupt nichts gewusst - ein formelles Evaluierungsverfahren etabliert. Ich kenne das gut aus den Aufsichtsräten von Banken. Da müssen Sie jährlich eine Selbstevaluation durchführen, und das muss der Wirtschaftsprüfer testieren. Das haben wir für den ZDF-Fernsehrat übernommen und mit einer externen Agentur erarbeitet. Hier haben auch jene, die mal leiser sind, die Möglichkeit, sich zu melden und anzugeben, wo sie sich vielleicht mehr Informationen wünschen oder eine andere Aufbereitung. Oder wo man sagen kann: „Ich brauche mehr Fortbildung“ - das klappt manchmal anonym besser als öffentlich. Wir haben unsere Arbeit also evaluiert und daraus einige Schlüsse gezogen, zum Beispiel bei der Frage, wie viel Medienkompetenz oder genauer: Kontrollkompetenz wir brauchen. Auch was Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen angeht. Hier haben wir uns - unter Hinzuziehung externer Wissenschaftler - professionalisiert und sind deutlich besser geworden. Der alte Fernsehrat wird dieses Tool auch dem neuen Fernsehrat empfehlen.

 

Wie sehen Sie denn rückblickend die Debatte um die Zusammensetzung der Gremien? Auch bei der RBB-Diskussion gab es ja Appelle, die Sicht der normalen Beitragszahlenden - Stichwort Publikumsrat - und der Mitarbeitenden stärker einzubeziehen.

Was diese Möglichkeiten angeht, sind wir sicher noch nicht am Ende der Fahnenstange. Aber ein neuer, zusätzlicher Rat macht es für die Öffentlichkeit nicht unbedingt besser nachvollziehbar, wenn ich zum Beispiel an vergleichbare Gremien in der Sozialversicherung denke. Wir sollten solche Erwartungen der Öffentlichkeit aber für uns stärker und professioneller wahrnehmen - dazu gehört auch mehr Kommunikation.

 

Im neuen Fernsehrat wird ab dem Sommer rund die Hälfte der Mitglieder ohne Vorerfahrung in diesem Gremium sein. Hier und da ist zu hören, das sei zu viel und behindere die Arbeitsfähigkeit des Gremiums.
Seit 2016 gilt eine Begrenzung auf drei Amtszeiten, das kommt also ziemlich passgenau. Ich habe das ja schon einmal geäußert: Bei Leitungsfunktionen halte ich es für besser, wenn man dort mehr Konstanz hat. Es geht aber eigentlich niemand aus dem Stand in so eine Leitungsfunktion. Man kommt in den Fernsehrat, arbeitet sich die ersten vier Jahre ein und fühlt sich dann auch fit für den Vorsitz. Und ich finde, in so einem Fall dürften es dann auch ruhig insgesamt vier Amtszeiten sein, ohne dass es gleich zur befürchteten „Versteinerung“ der Gremien käme.

 

Halten Sie die Rückkopplung durch die Gremien in die Gesellschaft für ausreichend? Berichten Fernsehratsmitglieder regelmäßig in den Institutionen, die sie entsandt haben, von ihrer Arbeit?
Wichtige Frage. Ich glaube, das muss jeder für sich und mit seiner Institution klären. Wir haben als Fernsehrat zwei Tools eingeführt, die jedes Mitglied dafür nutzen kann - unsere Präsenz auf Twitter beziehungsweise X und den Newsletter. Der erscheint acht Mal im Jahr und hat mittlerweile 5.000 Abonnenten. Da brauchen wir uns überhaupt nicht zu verstecken. Aber wir müssen immer am Ball bleiben und diesen Dialog stärken. Deshalb bin ich von der jüngsten Initiative, die ARD und ZDF gemeinsam angehen wollen, so begeistert: Durch Public Social Spaces allen auch technisch Zugang und Teilhabe zu ermöglichen. Wenn wir dadurch noch mehr Austausch und Dialog hinbekommen, lässt sich so auch das Thema Publikumsräte auf eine schlanke Art angehen.

 

ARD und ZDF sind ja ohnehin dabei, mehr gemeinsam zu machen. Reicht das?
Technische Anschlussfähigkeit ist unbedingt notwendig. Das hat was mit Sicherheit zu tun, auch mit Blick auf mögliche Cyber-Angriffe. Auch falls es uns mal finanziell wirklich nicht gut geht, macht eine hohe Kompatibilität Sinn. Aber der journalistische Wettbewerb muss in jedem Fall erhalten bleiben. Da läuft für meine Begriffe in der politischen Debatte manches schräg: Wenn hier einerseits zusammengestrichen werden soll und es andererseits heißt, die Gesellschaft wird gar nicht genug abgebildet. Wenn man das wirklich möchte, braucht es genau diesen Wettbewerb für die unterschiedlichen Zielgruppen. Auch mit Blick auf das Problem bei regionalen journalistischen Angeboten wegen der mangelnden Geschäftsmodelle für regionale Verleger. Die Regionalzeitungen sind unbedingt stärker zu beachten, wenn es um die Bewahrung unserer Demokratie auf allen Ebenen geht.

 

Sie sehen hier den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Pflicht?
Wenn wir sehen, dass da gar nichts mehr passiert, kann der Weg nur sein, die Verleger und die privaten Anbieter Huckepack zu nehmen. Dafür ist diese Open-Source-Idee genau richtig. Hier muss aber auch die Politik mitspielen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht wie bei den Online-Angeboten massive Beschränkungen auferlegen. Da hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus Rücksichtnahme auf private Anbieter Jahre verloren.

 

Wobei das zumindest die Verleger ganz anders sehen und aktuell eine erneute Klage in Brüssel vorbereiten...
Wir sollten in meiner persönlichen Wahrnehmung viel offener über Mischformen von öffentlich-rechtlicher und privater Zusammenarbeit nachdenken. Also - der Appell auch an die Verleger und privaten Rundfunkanbieter ist da.

 

Werden wir dann in fünf bis zehn Jahren ARD und ZDF überhaupt noch in dieser Form als getrennte Einheiten haben?
Das hängt in erster Linie von der Politik ab. Benötigt wird auf jeden Fall ein konvergenteres, den Nutzerinnen und Nutzern deutlich zugewandtes System, dessen Angebote leicht auffindbar sind. Ich glaube, dass es dabei Sinn macht, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geteilt und föderal bleiben. Das ist ein wichtiges Kontinuum in unserer Gesellschaft, das uns auch widerständig macht. Insofern hoffe ich unbedingt, dass es ARD und ZDF in zehn Jahren noch gibt.

 

Nach 20 Jahren im ZDF-Fernsehrat: Was macht Marlehn Thieme jetzt?
Ich habe gebeten, dass ich die Mitarbeiterzeitschrift noch eine Weile bekomme, damit ich auch sehe, wie der Strategieprozess im ZDF weitergeht. Aber ich werde mich zurückhalten, ungefragt Ratschläge zu geben. Und die Welthungerhilfe wartet schon darauf, dass ich mehr Zeit habe.