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Christian Tretbar: „Wir haben uns vom Anspruch auf Vollständigkeit verabschiedet“

Christian Tretbar: „Wir haben uns vom Anspruch auf Vollständigkeit verabschiedet“ Christian Tretbar (Foto: Egel Nassim Rad)

Der „Tagesspiegel“-Chefredakteur erklärt warum Experten für die Redaktion wichtiger sind als Korrespondenten, was bei KI noch nicht klappt und verrät, ob er sich mit Holger Friedrich schon einmal zum Essen getroffen hat.

Berlin – Der „Tagesspiegel“ baut gerade groß um. Im Interview mit Henning Kornfeld für das aktuelle „kress pro“ erklärt Chefredakteur Christian Tretbar, was gerade genau im Detail passiert.

 

Was hat Ihr Strategieprozess für die Redaktion ergeben?

Christian Tretbar: Wir haben für uns drei Schwerpunktfelder definiert: die nationale und internationale Politik, die Berichterstattung aus Berlin und seinen Kiezen und das Thema modernes/urbanes Leben. Wir sind eine Großstadtzeitung und keine Regionalzeitung. Berlin ist die politische, kulturelle und wissenschaftliche Metropole Deutschlands. Deshalb begreifen wir uns auch als Leitmedium aus der Hauptstadt. Was in Berlin passiert, geschieht früher oder später  auch in anderen Städten, egal ob es um Verkehr, Kriminalität oder Wohnen geht. Wir merken, dass wir viele Zugriffe aus ganz Deutschland bekommen, wenn wir über solche Themen berichten, genau wie über die nationale und internationale Politik. Wir haben in unserem Strategieprozess auch identifiziert, wie wir Themen angehen müssen. Dabei hilft uns das User-Needs-Modell.

 

Berichtet der „Tagesspiegel“ nicht seit jeher über diese drei Themenschwerpunkte?

Es geht darum, welche Themen wir selbst treiben wollen und worauf wir uns fokussieren. Wir haben uns zum Beispiel in anderen Themenfeldern wie dem Sport vom Anspruch auf Vollständigkeit verabschiedet, konzentrieren uns auf seinen Lifestyle-Aspekt sowie auf seine gesellschaftliche Rolle und bedienen nicht mehr jeden Bundesligisten oder jedes Turnier. Im Regionalen wollen wir die Probleme Berlins nicht nur beschreiben, sondern auch Lösungsideen anbieten. Natürlich können wir unseren Leserinnen und Lesern keinen Termin beim Bürgeramt besorgen, aber wir tragen ihre Anliegen in die Politik – gemäß dem Motto „Wir kümmern uns!“. Insbesondere für die Politik haben wir einen eigenen Ansatz entwickelt: Wir haben einen Stamm von mehr als 3.000 Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, Thinktanks oder Stiftungen aufgebaut, die wir regelmäßig zu Wort kommen lassen.

 

Was erhoffen Sie sich davon?

In einer sehr polarisierten Welt müssen wir Einordnung liefern, und zwar nicht nur aus der Warte des Journalisten, sondern auch durch externe Expertise, die wir für ein Nicht-Fachpublikum einsetzen. Wenn bei uns Themen wie Trump, Israel oder Russland aufschlagen, bitten wir nicht immer zuerst einen unserer Korrespondenten um eine Einschätzung,  sondern wir suchen nach geeigneten Experten. Im Vordergrund steht nicht die Reportage von vor Ort, sondern eine valide Einordnung zu einem Thema von jemandem, der sich tagtäglich damit beschäftigt.“

 

 

Welche Erwartungen an KI haben sich bei Ihnen bislang nicht erfüllt?

Nach der ersten Euphorie sind wir jetzt mit den Mühen der Ebene konfrontiert. Viele Anwendungen haben noch nicht das Qualitätslevel erreicht, das wir für unsere Arbeit brauchen. Daher muss man genau überlegen, was man implementiert. Uns würde ein Tool zum Kürzen von Texten sehr helfen, weil wir dafür in der Produktion der Zeitung große Ressourcen einsetzen, die wir woanders besser nutzen könnten. Die Ergebnisse auf diesem Gebiet sind aber noch nicht gut genug.

 

 

Holger Friedrich, der Verleger der „Berliner Zeitung“, geht offenbar gerne mit wichtigen Medienmenschen essen. Hatten Sie schon das Vergnügen?

Man sieht ihn ab und zu bei Veranstaltungen und dann sagt man ordentlich guten Tag. Ansonsten ist die „Berliner Zeitung“ für uns kein zentrales Thema, wir setzen auf unseren Qualitätsjournalismus.

 

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