Vermischtes
KNA – Steffen Grimberg

AfD-Gegner gekauft? – NDR-Redakteurin wirft seriösen Medien vor, auf AfD-Mär anzuspringen

AfD-Gegner gekauft? – NDR-Redakteurin wirft seriösen Medien vor, auf AfD-Mär anzuspringen Julia Saldenholz (Foto: NDR / Christian Spielmann)

Die AfD bezichtigt die ARD der Manipulation. Der NDR dementiert, doch die Kontroverse läuft weiter. Auch weil sich viele Medien das Narrativ der AfD zu eigen machen, kritisiert die zuständige Redakteurin Julia Saldenholz.

Hamburg – Am Montag hatte die von NDR und WDR produzierte politische Spielshow „Die 100 - Was Deutschland bewegt“ Premiere im Ersten. Und prompt einen vermeintlichen Skandal. Moderator Ingo Zamperoni befragt hier 100 ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Meinung zu kontroversen Themen – von Klimawandel bis Migration. Aus dem Fernsehen bekannte „Anwälte“ der jeweiligen Seite liefern Fakten und halten Plädoyers. Und die 100 Menschen auf dem Spielfeld stimmen ab: Sind sie eher dafür oder dagegen?


Die Frage der aktuellen Sendung lautete „Ist die AfD eine Gefahr für unserer Demokratie?“. Weil ein Mann, der dies zunächst verneinte und seine Meinung im Laufe der Sendung änderte, auch als Laienschauspieler tätig ist, warf die AfD der ARD Manipulation vor. Der NDR dementierte umgehend, doch die Kontroverse war in der Welt. Ein Gespräch von Steffen Grimberg, Leiter KNA-Mediendienst, mit der zuständigen Redakteurin Julia Saldenholz.

 

Frau Saldenholz, das NDR-Format „Die 100“ ist zum ersten Mal im Ersten gelaufen. Und prompt gibt es eine Kontroverse. Die Funke-Website Der Westen titelt: „‘Die 100‘ fliegt auf - Laienschauspieler wirkt bei Anti-AfD-Sendung mit“.
Julia Saldenholz: Es ist schon etwas befremdlich, wie es eine solche Meldung in dieses oder andere seriöse Medien schaffen konnte. Wie der NDR schon mehrfach erklärt hat: An den Vorwürfen ist nichts dran. Natürlich sind bei dem Format „Die 100“ keine Schauspieler engagiert, die Bürgerinnen und Bürger spielen sollen. Das würde die ganze Sendung ad absurdum führen. Hier sind doch gerade ganz normale Leute aufgerufen, offen ihre Meinung zu sagen. Die Geschichte mit angeblich gekauften Darstellern ist eine Mär, die gezielt - von vermutlich interessierten Kreisen - in die Welt gesetzt wurde.

 

Nennen wir sie doch beim Namen: Co-AfD-Chefin Alice Weidel hat entsprechende Vorwürfe erhoben, und auch seriöse Medien haben es aufgegriffen.
Alice Weidel ist ja erkennbar keine Freundin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dass von dieser Seite Fake News in die Welt gesetzt werden, ist nicht unbedingt überraschend. Dass diese es dann aber in einige - nicht alle - seriöse Medien schaffen, zeigt diesen Mechanismus, den wir alle kennen. Eine falsche Behauptung wird aufgestellt und viele springen darauf mindestens im Titel an. So verbreitet sich das Narrativ weiter, selbst wenn in den Artikeln weiter hinten damit aufgeräumt wird.

 

Wie wird man überhaupt Teilnehmer bei „Die 100“?
Wir haben über viele Kanäle zur Teilnahme aufgerufen, die Menschen konnten sich für diese Sendung bewerben. Natürlich können wir mit 100 Leuten Deutschland nicht repräsentativ abbilden. Deswegen versuchen wir, eine möglichst gute Mischung zu haben: alte Menschen, junge Menschen, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit unterschiedlichem Bildungshintergrund, aus möglichst verschiedenen Berufen, natürlich auch ungefähr eine Ausgewogenheit zwischen Männern und Frauen. Und wir brauchen natürlich Menschen, die unterschiedlicher Meinung sind. Wir stellen in der Sendung eine Frage, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird. Wir wünschen uns natürlich, dass auch in der Sendung Menschen sind, die zu dieser Frage unterschiedlicher Ansicht sind.

 

„Ist die AfD ein Problem für die Demokratie?“, lautete die Frage zur Sendung. Wissen die Teilnehmer eigentlich im Vorfeld, worum es geht?
Nein, wir verraten den Menschen das Thema der Sendung nicht vorher, weil wir gar nicht wollen, dass sie sich vorbereiten. Außerdem möchten wir vermeiden, dass Teilnehmende eine Agenda vertreten und interessierte Kreise ihre Leute schicken. Deswegen stellen wir ihnen vorab ein paar Fragen wie „Wie stehen Sie zum Klimawandel?“ oder zur Vier-Tage Woche, zur Ampel oder eben auch zur AfD. Wir machen das, damit wir möglichst sicher sein können, dass in der Sendung nicht alle der gleichen Meinung sind. Bei uns muss aber niemand einen Gesinnungstest bestehen, um mitzumachen, und wir können auch nicht voraussehen, was die Menschen in der Sendung sagen oder wie sie sich verhalten werden. Das ist ja gerade das Spannende an dem Format!

 

In Kritiken zur Sendung wird vielfach bemängelt, dass hier sehr komplexe Themen eher spielerisch und zu stark vereinfacht angegangen werden. Kritik kommt auch aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk selbst. „Monitor“-Chef Georg Restle vom WDR hat zum Beispiel kritisiert, dass die Frage nach der AfD und der Demokratie als Pro- und Contra-Frage formuliert wurde.
Wir haben so viel Lob für dieses Format bekommen, dass ich es gut aushalten kann, dass es auch Kolleginnen und Kollegen gibt, denen es nicht gefällt. Konstruktive Kritik aber begrüßen wir sehr. Es ist ein junges Format, das wir weiter optimieren wollen. Wir wollen mit „Die 100“ ein zusätzliches Angebot machen - auch weil wir sehen, dass die klassischen Politik- und Diskussionsformate viele Menschen nicht erreichen.

 

Nun wirkt „Die 100“ über weite Strecken wie eine Unterhaltungsshow …
… aber auch in der Unterhaltung geht es darum, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen und sie wirken zu lassen. Das mag für manche unterkomplex sein, ich glaube aber, für viele Menschen ist es das nicht. Und die Frage, ob die AfD ein Problem für die Demokratie ist, wird in der Gesellschaft ganz unterschiedlich bewertet - übrigens unabhängig von der eigenen politischen Meinung. Fast die Hälfte der Menschen sagt: „Nein, ist sie nicht.“ Das ist eine Haltung, die ich nicht teilen muss, aber das ist eine Haltung, die man haben kann.

 

Wird die aktuelle Erfahrung Konsequenzen haben? Zum Beispiel, was die Auswahl der Teilnehmenden und die Überprüfung ihrer Angaben angeht?
Der Teilnehmer, der jetzt so in der Kritik steht, ist wie alle anderen von uns weder engagiert noch bezahlt worden, noch durch uns in seiner Meinung in irgendeiner Weise beeinflusst worden. Es war für uns vollkommen offen, ob sich überhaupt jemand bewegt. Es ist nicht Konzept der Sendung, dass sich Menschen am Ende umentscheiden. Natürlich stehen wir unter der kritischen Beobachtung unseres Publikums und unter harter Beobachtung von rechts. Unser Anspruch ist, so gut es geht sicherzustellen, dass wir eine bunte Mischung auf dem Spielfeld haben und dass die Menschen wirklich ihre persönliche Meinung frei äußern. Ich würde aus dieser Sache nicht den Schluss ziehen, eine Berufsgruppe wie Schauspielende per se auszuschließen.

 

Trotzdem verbreiten viele Medien die Vorwürfe der AfD weiter, dass dort mutmaßlich getrickst worden sei. Das steht dann gleichwertig neben dem Dementi des NDR.
Vielleicht nicht ganz gleichwertig, aber manches empfinde ich schon als False Balance. Der Vorwurf von den „gekauften Protagonisten“ ist frei erfunden, das hat der NDR klargestellt. Trotzdem wird diese Mär in Teilen weiterverbreitet. Ich glaube, wir Journalistinnen und Journalisten müssen in diesen Zeiten genau hinschauen und aufpassen, dass das Gift der Desinformation und Verunsicherung nicht weitergetragen wird. Mich erschreckt es, dass die AfD einen Teilnehmer unserer Sendung benutzt, um Stimmung gegen die ARD zu machen. Der Mann bekommt mittlerweile Drohungen, er solle nachts besser nicht mehr aus dem Haus gehen. Das ist fatal. Wer wird denn noch bei solchen Formaten wie

„Die 100“ teilnehmen, wenn das am Ende für die Menschen dabei rauskommt?


Was wiederum der AfD und anderen, die behaupten, man könne in Deutschland seine Meinung nicht mehr frei äußern, in die Karten spielt.
Wenn Menschen Angst haben, ihre persönliche Meinung offen zu sagen, haben wir alle ein Problem. Denn das ist die Grundlage von gutem Journalismus. Wir sollten alle in diesen sehr aufgeregten Zeiten genau schauen: Was wird da von wem mit welcher Absicht in die Welt gesetzt? Und uns fragen: Was ist hier eigentlich gerade die Geschichte? Ist es überhaupt eine - und wenn ja, welche ist es? Ich finde, diese Regel ist heute wichtiger denn je.