20 Jahre Bad Kleinen: Warum der "Spiegel" seine Fehler endlich aufarbeiten muss
Noch immer bestehen „grundsätzliche Zweifel“ ob Hans Leyendecker „überhaupt jemals in Kontakt mit dem behaupteten Informanten ... gestanden hat", wie das Oberlandesgericht Rostock feststellte.
Berlin - Die Absage kommt per E-Mail. "Ich habe mich so oft in den vergangenen 20 Jahren und auch wieder in diesen Tagen zu Bad Kleinen geäußert, dass ich zu Filmen und deren Inhalten nichts mehr sagen mag", antwortet Hans Leyendecker auf unsere Anfrage. Dabei gehört die Berichterstattung über das tödliche Drama am Bahnhof der Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern zu den journalistischen Tiefstpunkten der wiedervereinigten Republik. Das Land in die Krise stürzte damals der falsche Report des "Spiegel". Autor: Hans Leyendecker, der seit Jahren als Star der investigativen Recherche verehrt wird.
Denn auch 20 Jahre nach der Erschießung des RAF-Terroristen Wolfgang Grams auf dem Bahnhof von Bad Kleinen bestehen „grundsätzliche Zweifel“ ob Leyendecker „überhaupt jemals in Kontakt mit dem behaupteten Informanten ... gestanden hat", wie das Oberlandesgericht Rostock feststellte.
27. Juni ein besonderer Gedenktag für deutschen Journalismus
Hans Leyendecker. Foto: Screenshot
Die Fehler in der Berichterstattung des "Spiegel" über Bad Kleinen haben in der Dimension eine vergleichbare Bedeutung wie die "Hitler-Tagebücher" für den "Stern". Mit einem Unterschied - der "Stern" konnte sich einer Aufarbeitung nicht widersetzen.
Das Drama von Bad Kleinen
Vor 20 Jahren nahm die GSG9 im Rahmen der Operation „Weinlese“ die Terroristin Birgit Hogefeld fest; Wolfgang Grams starb an einem tödlichen Kopfschuss, der er nach übereinstimmenden Ermittlungsergebnissen „sich selbst in Suizidabsicht beigebracht“ hatte.
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ schrieb eine Woche nach dem spektakulären Anti-Terror-Einsatz: „Tötung wie eine Exekution.“ Am 5. Juli 1993 (Nr. 27/1993) klang der Tathergang wie eine Echtzeit-Krimi: „Er lag da auf der linken Körperseite. Ein Kollege kniete auf ihm. Er hatte keine Bewegungsmöglichkeit mehr. Die Arme waren gespreizt. Die Waffe lag etwa zwei Meter von ihm entfernt 20 Grad nach oben links. Grams hat keine Möglichkeit mehr gehabt, das Schießgerät zu erreichen. (...) Nach etwa ewig langen 20 Sekunden ist dann der tödliche Schuß gefallen. Ein Kollege von der GSG 9 hat aus einer Entfernung von Maximum fünf Zentimetern gefeuert.“
Diese Version verkaufte "Spiegel"-Autor Hans Leyendecker noch vor Erscheinen des "Spiegel" auch in einem ARD-Interview der Tagesthemen. Die Republik bebte, wie einst bei den Verhaftungen im Zusammenhang mit der so genannten „Spiegel-Affäre“.
„Eigentlich hätte man mich damals feuern müssen“
Doch an dieser Version – angeblich von einem vor Ort anwesenden Beamten, der sich Leyendecker in „Seelennot“ offenbarte - stimmte verglichen mit den späteren Ermittlungsergebnissen nichts.
"Schon der Grund, aus dem sich der Informant an den "SPIEGEL" gewandt hat, ist nicht recht nachvollziehbar." Foto: Auszug aus dem „Abschlußvermerk“ der Staatsanwaltschaft Schwerin und des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern vom 30. Januar 1994.
Der angebliche Augenzeuge war nicht vor Ort, seine Darstellung widerspricht allen Zeugen, Gutachten und umfangreichen Beweisen. Dies belegt unter anderem der bislang nicht veröffentlichte 210-seitige „Abschlußvermerk“ der Staatsanwaltschaft Schwerin und des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern vom 30. Januar 1994 (AZ: 141 Js 283 / 93), der uns vorliegt. Die Kernaussage: „Die Angaben des Informanten gegenüber dem Zeugen Leyendecker sind, wenn es sich denn nicht um bewusst falsche Angaben gehandelt hat, jedenfalls nicht von höherem Beweiswert als ein anonym weitergetragenes Gerücht.“ Staatsanwalt Zacharias und Kriminalhauptkommissar Grund zerpflücken die Spiegel-Titel-Story „Der Todesschuss - Versagen der Terrorfahnder“ in jedem Detail. Am Ende bleibt nur heiße Luft und der Zweifel, ob es den angeblichen Augenzeugen von Leyendecker überhaupt gegeben hat.
Heute räumt Leyendecker in einer Rekonstruktion („Das Trauma des Hans Leyendecker“, nr-Werkstatt 22, Tunnelblick, Berlin 2012, S. 130 ff.) ein: „Eigentlich hätte man mich damals feuern müssen.“ Diese späte Erkenntnis hatte er offenbar am 13./14. August 1998 bei der mündlichen Verhandlung im Zusammenhang mit einem weiteren Verfahren in der Causa „Bad Kleinen“ vor dem Landgericht Bonn noch nicht. Zwar beteuerte der Zeuge Leyendecker, er „sei kein billiger Sensationsjournalist“ (LG Bonn 10274/96); trotzdem „kommt der Aussage des Zeugen L. letztlich kein Beweiswert zu Gunsten der Kläger zu.“ Die Richter dokumentierten ausführlich ihre Zweifel unter anderem „an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Zeugen“ Leyendecker.
Zu einer ähnlich vernichtenden „Zeugen-Einschätzung“ kommt das Landgericht Rostock in einem „Klageerzwingungsverfahren im Fall Bad Kleinen“ (dokumentiert in: NStz-RR 4/1996, Seite 272 ff.), Schritt für Schritt wird die Spiegel-Titelgeschichte zerpflückt.
Leyendeckers angeblicher „Zeuge“
Trotz aller aufwendigen Ermittlungsergebnisse, Gerichtsurteile und Gutachten sagte Leyendecker bilanzierend in einem Interview mit dem Deutschlandradio am 15. Mai 2007: „Ja. Ich hatte die Aussage eines Zeugen, der dabei war. Das war ein Beamter, der behauptete, der Terrorist Grams sei von zwei Kollegen praktisch hingerichtet worden. Die hatte ich überbetont. Ich hatte dieser Aussage eine zu große Bedeutung gegeben, sie zu wenig relativiert und das ganze zu stark aufgeblasen.“ Im Trauma-Protokoll ergänzt er später: „Der Fehler war, dass wir eine sechsseitige Titelstory gemacht haben.“ (Tunnelblick, 2012, S. 135)
Überbetont? Zu wenig relativiert? Aufgeblasen? Zu großer Umfang?
In seinem Tunnelblick „Trauma-Bericht“ bekennt Leyendecker schließlich: „Ich konnte dann rekonstruieren, dass mein Zeuge bei der Staatsanwaltschaft etwas völlig anderes ausgesagt hatte als mir gegenüber.“ (Tunnelblick, 2012, S. 134)
Merkwürdig für einen Zeugen, der sich aus tiefster „Seelennot“ Leyendecker anvertraute. Noch merkwürdiger – sein „Anonymus“ sei später für ihn nicht mehr „erreichbar“ gewesen. Ob Leyendeckers „Kronzeuge“ identisch mit den von der Staatsanwaltschaft Schwerin vernommenen Personen ist, bleibt höchst fraglich.
Der damals amtierende "Spiegel"-Chefredakteur Hans-Werner Kilz sagte lediglich, „man habe mit dem Mann gesprochen." (Focus Nr. 31/1993) Auch der Chef der Polizeigewerkschaft zweifelte, ob es den Spiegel-Zeugen überhaupt gab.
Das waren dann doch zu viele Widersprüche, die einige gestandene Spiegel-Redakteure irritierten. Leyendecker rekonstruiert in seinem Trauma-Text die Reaktionen in der Spiegel-Redaktion: „Und dann kamen die ersten Klugen, die sagten: `Hat es diesen Zeugen überhaupt jemals gegeben?` Es gab Leute wie Rudolf Seiters, der sagte: `Der hat den Informanten erfunden´. Das sagt er bis heute.“ (Tunnelblick, 2012, S. 135)
Diese Sicht auf den angeblichen Zeugen ist auch dem neun Tage nach der Polizeiaktion in Bad Kleinen entlassenen Generalbundesanwalt, Alexander von Stahl, von Insidern der Spiegel-Redaktion mitgeteilt worden. Nach Kenntnis dieser Quelle soll Leyendecker lediglich die Information von einem seiner bewährten Geheimdienst-Quellen aus dem Sicherheitsapparat erhalten haben. Diese Quelle sei aber nicht in Bad Kleinen dabei gewesen.
Auch Cicero Online, das Magazin für politische Kultur, hat in dieser Woche interessante Beiträge zu Bad Kleinen veröffentlicht:
Leyendecker ist nach dem „Blutbad von Bad Kleinen“ zu von Stahl nach Ettlingen in den Schwarzwald gereist, um sich zu entschuldigen, sich ehrlich zu machen. Aus Seelennot? Beim ebenfalls direkt nach der Spiegel-Veröffentlichung zurückgetretenen Innenminister Rudolf Seiters hat er sich jedenfalls nicht entschuldigt. Am 13. Oktober 2012 antwortete Seiters Bild.de: „Der Spiegel hat damals das Märchen vom aufgesetzten Kopfschuss (...) in die Welt gesetzt. Gab es dafür später eine Entschuldigung?“ Antwort: „Nein. Der Redakteur Leyendecker wurde zwar zitiert, das sei der größte Fehler seines journalistischen Lebens gewesen, aber entschuldigt hat er sich nie.“
Bis heute ist Bad Kleinen für Seiters ein nicht aufgearbeiteter Medien-Skandal, der zwei Rücktritte und mehrere hochrangige Versetzungen im BKA zur Folge hatte.
Rapport bei Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein
Das sah Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein offensichtlich genauso. Leyendecker und der damalige Spiegel-Chefredakteur Kilz wurden von ihm ins Ferien-Domizil nach Sylt zitiert. Aber es passierte (zunächst) nichts; schließlich hatte das engmaschige Kontrollnetz des Spiegels samt der unbestechlichen Dokumentation versagt; Kilz und Leyendecker setzten ihre Karrieren nach dem später erzwungenen Abschied vom "Spiegel" bei der "Süddeutschen Zeitung" fort.
Zu dramatisch wären die Folgen einer echten Aufarbeitung für den "Spiegel" gewesen. Es gab nach Newsroom.de-Recherchen eine interne Aufarbeitung, aber die Akten sind sorgsam verschlossen, auch weil führende Spiegel-Leute die Story am 5. Juli 1993 durchwinkten. Die Bad-Kleinen-Titelstory des Spiegel („Tötung wie eine Exekution“) hat im Rückblick die gleiche Bedeutung wie die „Hitler-Tagebücher“ des Stern. Eine Aufarbeitung der Vorgänge gab es bisher aber nicht, auch nicht im dafür eingerichteten "Spiegelblog“.
Im Spiegel-Archiv findet sich online in der historischen Rubrik „Eines Tages“ lediglich eine blasse, verharmlosende Version der Vorgänge von Bad Kleinen, die nicht einmal den aktuellen Faktenstand der Ermittlungsergebnisse referiert. Im aktuellen Spiegel gibt es zum historischen Datum „Bad Kleinen“ keine Geschichte. Immerhin liefert Mitbewerber "Focus" heute einige neue Hinweise zur Doppelrolle der V-Mann-Legende Klaus Steinmetz und seiner möglichen Beteiligung an der Sprengung des Gefängnis-Neubaus im hessischen Weiterstadt.
Eins steht fest: Hätte der `neue´ "Spiegel" Größe, würde die Redakteursvertretung Peter Merseburger mit der Aufarbeitung dieser „Spiegel-Affäre“ beauftragen. Denn von allen Unternehmen, Parteien und Institutionen wird vom "Spiegel" stets genau diese Aufarbeitung selbst in vergleichbar banaleren Fällen gefordert.
Titelseite: Abschlussbericht der Bundesregierung zu Bad Kleinen.
Auch die beiden aktuellen ARD-Feature (NDR/SWR am 24.6.2013 „Zugriff im Tunnel“ von „Geheimdienst-Experte“ Egmont Koch und die NDR/WDR-Produktion „Endstation Bad Kleinen“ von Anne Kauth, WDR, 21.6.2013) blenden die mediale Sprengkraft von Leyendeckers „Bad-Kleinen-Recherchen“ weitgehend aus. Das kritisiert auch FAZ-Redakteur Michael Hanfeld in der heutigen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Zu gut kommen bei Koch in diesem Zusammenhang nur die Journalisten weg – das WDR-Magazin „Monitor“, das falsch lag, und der damals für den „Spiegel“ arbeitende Hans Leyendecker, dessen Darstellung der Aussage eines anonymen Zeugen für eine „Hinrichtung“ sich als nicht haltbar erwies." Stattdessen pflegt der NDR/WDR-Film längst widerlegte Mythen.
Und selbstverständlich gelten die gleichen Selbstaufklärungs-Ansprüche auch für das WDR-Magazin "Monitor". Auch deren „Gau“ in der Bad-Kleinen-Berichterstattung ist bis heute nicht aufgearbeitet.
„Alles hinwerfen – kündigen“
Der Appell der Bundesregierung in ihrem - ebenfalls unveröffentlichten 46-seitigen - Abschlussbericht „zu der Polizeiaktion am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen/Mecklenburg-Vorpommern“ vom 1.3.1994 klingt dann im Rückblick naiv. Die Autoren des uns vorliegenden Berichtes fassen zusammen: „An das Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“, welches unter Berufung auf einen angeblichen Tatzeugen den ungerechtfertigten Vorwurf einer „Hinrichtung“ des GRAMS durch GSG 9-Beamte genährt hat, ist unverändert die Forderung auf Benennung des „Zeugen“ zu richten. Dies umso mehr, als bereits zu einem früheren Zeitpunkt angenommen werden musste, daß wesentliche Teile der Darstellung dieses angeblichen „Zeugen“ nicht richtig sein konnten.“
Keine Aufklärung
Hans Leyendecker denkt jedoch nicht an eine vollständige Aufklärung. Ulf Hanke und Marie von Mallinckrodt von der Deutschen Journalistenschule sagte er in einem Online-Interview für das Goethe Institut vor einigen Jahren: „Ich hab mich dafür vielfach entschuldigt. Aber ich habe mich nicht ins Schwert gestürzt.“ „Die Buße sieht so aus, dass sie viele Informanten verlieren. Dass das Blatt, was sie mögen, einen Image-Schaden hat. Und das der Journalist selbst eigentlich davor ist, alles hinzuwerfen – zu kündigen. Die vollkommene Buße wäre die vollzogene Kündigung gewesen.“ Frage: „Haben Sie das erwogen?“ Antwort: „Ja.“ „Aber wenn ich keine Familie gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich aufgehört.“