Leute
DPA

Jürgen Fliege: Vom Fernsehpfarrer zum Schuhlöffel Gottes

Jürgen Fliege ist umstritten. Für die einen ist er ein Heilsbringer, für andere ein Scharlatan mit Hang zur Esoterik. Die Zeit seiner Erfolge liegt lange zurück. Heute betreut Fliege seine Fans über das Internet. Und die evangelische Kirche führt ein Verfahren gegen ihn.

 

 

München (dpa) - 2003 war die Welt von Jürgen Fliege noch in Ordnung. In den Bavaria-Filmstudios in Grünwald bei München war er seit zehn Jahren Gastgeber der täglichen "Fliege Talkshow". Zur Freude von Millionen Zuschauern schütteten bedrückte Menschen dem evangelischen Pfarrer ihr Herz aus. Fliege schenkte ihnen Gehör, Trost und aufmunternde Sprüche. 2012 ist alles anders.

Die ARD-Show ist Geschichte. Stattdessen hat er ein Disziplinarverfahren der Evangelischen Kirche im Rheinland am Hals. Mit flapsigen Äußerungen über Gott und die Welt und mit esoterischen Aktivitäten erregte er den Unmut der Kirchenoberen. "Es ist eine perverse Situation im Land, dass die Sinnsucher verachtet werden. Und ich gehöre immer zu den Verachteten", sagte er der Nachrichtenagentur dpa anlässlich seines 65. Geburtstags am Freitag (30. März).

Fliege sieht sich als verkannten Kirchenreformer, der der Amtskirche ein menschlicheres Gesicht geben will. "Es wird zu viel gelesen und zu wenig gelebt", findet der Pietist, der nahe München am Starnberger See lebt. Die Spiritualität ist für ihn das Mittel, mit dem die Kirche austrittswillige Zweifler zurückholen könnte. "Sie suchen Lebenssinn. Sie gehen nicht von Gott weg, sondern sie gehen von einer Amtskirche weg."

Für die Evangelische Kirche waren seine Äußerungen etwas zu locker. Sogar von Scharlatanerie war die Rede. Unstimmigkeiten gab es in den vergangenen Jahrzehnten zwar immer wieder. Doch 2011 wurde es den Kirchenoberen zu viel und sie leiteten ein Disziplinarverfahren ein, dessen Ende nach Angaben der Kirche noch nicht absehbar ist. Auslöser war vor allem ein Porträt des Journalisten und Autors Benjamin Stuckrad-Barre. Er hatte aus einem Gespräch des Pfarrers mit einem Brautpaar den Satz zitiert, Gott und Kirche seien "erst mal scheißegal" - es komme auf die Seele an.

Auch einen Kräutertrank fanden die Vorgesetzten des pensionierten Pfarrers dubios: Die Fliege-Essenz, die für fast 40 Euro verkauft wurde. Dreimal täglich einnehmen und dazu beten, empfahl der Beipackzettel. "Das wirkt", meint Fliege. "Die Wirkung von Tabletten, Spritzen und chirurgischen Eingriffen hängt immer von Ihrem Bewusstsein ab, das gilt auch für jede Form von spiritueller Behandlung." Warum er damit in die Nähe esoterischer Sekten gerückt wurde, versteht er nicht. Er habe die Flüssigkeit in homöopathischer Tradition mit Gebeten "informiert", ähnlich wie beim Weihwasser. "Was die katholischen Priester dauernd tun mit normalem Leitungswasser kann ich doch wohl mit Pflanzenextrakt machen."

Das sah die Hamburger Sekten-Expertin Ursula Caberta anders. Fliege stehe "symptomatisch" für eine gefährliche Entwicklung: Er sei vom evangelischen Pastor zum Esoteriker mutiert und habe "wohl alles vergessen, was er in christlicher Geschichte vielleicht mal gelernt hat", schrieb sie 2008 in ihrem "Schwarzbuch Esoterik".

Den Wirbel um Esoterik findet der Theologe übertrieben. Ende Oktober 2011 lud er Schamanen, Wunderheiler und Engelsredner zu einem Kongress. "Spirituelles Woodstock" nannte Caberta die geplante Tagung damals. "Esoterik ist in Deutschland ein negativer Begriff, dabei sind das alles Sinnsucher", beklagt Fliege. "Es ist ein Skandal, das wir Sinnsucher diskriminieren und Raffkes feiern."

Menschen auf der Suche nach Sinn will der prominente Pfarrer auch in Zukunft nicht alleine lassen. Auf seiner Internetseite können sie weiter von ihrem Leid erzählen und sich Tipps holen. Außerdem betreibt der Träger des Bundesverdienstkreuzes eine Stiftung. Fliege beschreibt seine Arbeit auf seiner Startseite so: "Ich bin eine Art Schuhlöffel. Ich versuche den Menschen dabei behilflich zu sein, dass sie in ihre von Gott maßgeschneiderten Schuhe passen - und gehen."